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Zur Geschichte der Guericke-Schule in Magdeburg

Am 25. Oktober 2008 fand in der Aula des früheren Gymnasiums Otto von Guericke in Magdeburg eine Feier zur Enthüllung einer Erinnerungstafel statt, mit der auf die Gründung der Guericke-Schule im Jahre 1868 hingewiesen wird. Redner waren u.a. der Oberbürgermeister der Stadt Magdeburg, Dr. Trümper und Dr. Bodo Brücher, ehemaliger Schüler des Gymnasiums. Der Vortrag zur Geschichte der Schule ist unter den „Texten im Wechsel“ zu finden. Vgl. auch http://www.ovg-jubilaeumstafel.de/ovg-jubilaeumstafel.htm).

Bodo Brücher/Inge Buschmann/Olga Lakyziuk: Bildungswirkungen eines Stadtteilprojektes in der Retrospektive nach dreißig Jahren

Ziel dieser Darstellung sind Recherchen über nachhaltige Bildungserfahrungen im Projekt Stieghorst (Universität Bielefeld 1973 bis 1979). Das damalige Projekt wurde beschrieben in dem vom Juventa Verlag 1982 herausgebrachten Buch „Bildungsarbeit im Stadtteil - Erfahrungen aus dem Projekt Stieghorst“ (Baacke, Dieter; Brücher, Bodo; Ferchhoff Wilfried; Wessel, Ingrid) und weiteren Veröffentlichungen von Dieter Baacke, Bodo Brücher, Wilfried Ferchhoff und anderen in Buch- und Zeitschriftenbeiträgen. Ziel des Projektes war die Verbesserung der Kommunikationsbeziehungen in einem Vorort einer mittleren Gro߬stadt (Bielefeld-Stieghorst). Dabei standen die Funktion der Massenmedien (z. B. das Fernsehen als freizeitbestimmender Faktor), Methoden und Möglichkeiten bürgerorientierter Gemeinwesenarbeit und Aufgaben stadtteilorientierter politischer Bildung im Mittelpunkt der Handlungsforschung. Das Projekt hatte für die praktische Arbeit im Stadtteil einen eigenen Verein gegründet (Projekt Stieghorst e.V.), dessen Seminare von der Landeszentrale für Politische Bildung gefördert wurden. Die Begleitforschung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert.
Neben anderen Seminaren und Aktivitäten im Stadtteil, deren Zielgruppe Jugendliche oder ältere Menschen waren, bildete sich aus den Teilnehmern und Teilnehmerinnen eines ersten Familienseminars im Herbst 1975 eine Gruppe, die sich selbst den Namen „Initiativgruppe Stieghorster Familien“, kurz „Ini-Gruppe“ gab, die bis heute besteht. Wir fragten uns deshalb, inwieweit die Aktivitäten des damaligen Projektes der Handlungsforschung diesen Zusammenhalt bewirkt und ein weiteres Engagement dieser Gruppe und einzelner ihrer Mitglieder in den folgenden Jahren und zum Teil bis heute beeinflusst haben. Wir wollten wissen, ob die Seminare Hilfen und Orientierungen bewirkten, welche sozialen, politischen oder kirchlichen Aktivitäten begonnen und langfristig fortgeführt wurden, zu denen einzelne oder mehrere Mitglieder der Gruppe angeregt wurden, welche der erworbenen Kenntnisse und Kompetenzen den Eltern geholfen haben, um im schulischen Bereich aktiv tätig zu werden oder kommunalpolitische Zusammenhänge besser beurteilen und ggf. vor Ort aktiv werden zu können.

Auswirkungen auf die Familie

Es bestätigte sich, dass die Familienseminare und die daraus erwachsenen Aktivitäten der Gruppe im Stadtteil nicht nur eine aktuelle, sondern eine langfristige Veränderung bewirkten. Ging es doch in den ersten Veranstaltungen um die sozialen Aspekte der Familie, wesentlich dabei um Fragen der Kindererziehung, spielte die Umsetzung der in der Lernsituation gewonnenen Einsichten der Einübung antizipativen Handelns eine Rolle. Ein Planspiel, das eine Konfliktsituation in der Schulpflegschaft zum Thema hatte, und an dem auch ältere Kinder der Teilnehmer und Teilnehmerinnen mitwirkten, führte den Eltern erschreckend ihre Inkompetenz vor Augen, so dass die Aneignung notwendiger Kenntnisse und die Einübung von Verhalten, auch etwa in Rollenspielen, eine nachhaltige Veränderung bewirkte. Einzelne Eltern haben sich darüber hinaus nach dem vorausgehenden Seminar getroffen und ihre Erfahrungen ausgetauscht.
Auch noch in dem Treffen der Autoren dieses Beitrags mit der Familiengruppe im Jahre 2008 wurden Probleme des Verhältnisses der Eltern zu den nun erwachsenen Kindern diskutiert.
Seminare und andere Aktivitäten haben sich zudem auf die persönliche Entwicklung langfristig ausgewirkt. Ein Beispiel u.a. zeigt, dass eine der Frauen sagt, sie habe in den Seminaren Kompetenzen erworben, ohne die sie später in Gremien des Kindergartens oder der Schule nicht mitgearbeitet hätte. Als das Kind die Grundschule besuchte, wäre sie in die Klassenpflegschaft gewählt worden, dann auch in die Schulkonferenz und Jahre später auch in die Gremien der Gesamtschule. Dort durfte sie dann mitbestimmen über die Integration von behinderten Kindern.

Auswirkungen auf soziale Tätigkeiten

Teilnehmer, dazu befragt, worauf sie den Zusammenhalt der Gruppe über Jahrzehnte hinweg zurückführten, waren allgemein der Meinung, dass die Bestimmung der Gruppe von Beginn an auf dauerhafte Aktivitäten angelegt war. Einer der Befragten erklärte das damit, dass Einzelaktivitäten dagegen, die oft der Verwirklichung eigener Interessen dienten, irgendwann wieder beendet wurden. „Das hab’ ich mehr oder weniger alles allein gemacht, während es hier um eine Gruppe ging, in der die Familien gemeinsam etwas unternommen haben, und sich zwischendurch gemeinsam, nicht alle, aber einzelne, getroffen haben". Soziale Aktivitäten wären nicht zustande gekommen ohne die Ini-Gruppe. "Die hat uns den Rücken gestärkt.“
Sei es, dass ein Ehepaar sich besonders um einen Jungen gekümmert und ihm bei der Überwindung seiner Alltagsprobleme geholfen hat, oder dass Gruppenmitglieder sich in Zusammenarbeit mit der Kirche für sozial gefährdete Jugendliche einsetzten. "Die (Jugendlichen) wussten nicht, wo sie hin sollten. Hier oben an der Kirche gab es noch das alte Pfarrhaus. Da haben wir mit einigen aus unserer Gruppe Jugendarbeit gemacht." Die Frauen haben Jugendliche von Parkbänken betreut und sie in die Arbeit des Projektes einbezogen. Beispielhaft für soziales Handeln war auch die Pflege bedürftiger Personen oder deren Betreuung, nicht ungewöhnlich auch Hilfen im Altenheim. Eine Tätigkeit im Jugendfreizeitbereich oder in der Betreuung älterer Menschen wurde als eine notwendige soziale Aufgabe, wenn nicht sogar als Verpflichtung benannt.

Aktivierung der politischen Interessen

Es sind verschiedene Aktivitäten, an die sich die Befragten wieder erinnern. "Zum Beispiel ging es um Atomkraft. Da haben wir zu dem Thema Diskussionsrunden veranstaltet mit Leuten, die fachkompetent waren." Es hat auch Aktivitäten zur Friedensbewegung gegeben in Kooperation mit der Evangelischen Kirche. "Das haben wir mit der Ini-Gruppe veranstaltet, und dazu auch andere Leute eingeladen." Die Gruppe engagierte sich auch für das örtliche Freizeitzentrum. "Das Freizeitzentrum sollte ursprünglich weiter im Westen gebaut werden. Die Standorte waren aus irgendwelchen politischen Interessen gewählt worden. Wir wollten es an der Stelle haben, wo es jetzt auch ist. Weil wir dachten, dass da mehr Platz ist und mehr Auslauf, obwohl die Meinungen da in der Ini-Gruppe etwas geteilt waren, weil da auch Anwohner waren. Das hat unserer Freundschaft in der Gruppe aber nicht geschadet." Die Gruppe hat dann an einem Wochenende eine Bevölkerungsbefragung durchgeführt und 1400 Unterschriften gesammelt. Die haben wir dem Oberbürgermeister überreicht.“
Dann gab es oft spontane Aktivitäten. „1991 sind wir zum Beispiel mit einigen zusammen zu einer Kundgebung nach Bonn gefahren, wo es gegen den Irak-Krieg ging. Ein anderes unserer Treffen 2007 hatte das Thema "Klimawandel".

Auswirkungen auf die Persönlichkeitsbildung und das Berufsleben

Ein Befragter äußerte sich wie folgt: „Die Gruppe hat mich doch ziemlich geprägt, ich bin wesentlich lockerer im Umgang mit Leuten geworden. Dass ich im Außendienst Erfolg hatte, führe ich mit darauf zurück. Ich bin (in der Firma) jedes Jahr ausgezeichnet worden."
"Wir haben in den Seminaren gelernt zu diskutieren, haben unser Verhalten in Rollenspielen überprüft und wurden im Umgang mit anderen sicherer". Das hat geholfen, im Beruf Erfolg zu haben. Einige konnten weiter kommen. "Das hat schon dazu beigetragen, und auch, dass man andere kennen gelernt hat, die in der Ini-Gruppe waren, und mit denen man sich unterhalten hat, mit denen man Erfahrungen ausgetauscht hat und wir uns gegenseitig Tipps geben konnten.“ Die Kommunikation mit sozialen Gruppen veränderte vor allem die Frauen. Die befragten Frauen gaben an, dass sie angesichts der Beteiligung an der Gruppe überzeugt waren, nicht mehr alleine zu stehen. Es entstand das Gefühl der gemeinsamen Stärke, die sich auf Familie und Elternschaft ausgewirkt habe. Es entwickelte sich das Bewusstsein der Gruppenzugehörigkeit, bei dem die beteiligten Frauen gelernt hätten besser zu reden, ihre Gedanken zu artikulieren, zu diskutieren, die vorhandenen Probleme anzusprechen, und es gab wichtige Einflüsse auf die Entwicklung von Selbstvertrauen und ausgeprägtere Kommunikationsfähigkeiten. Sie konnten offener mit den Lehrkräften ihrer Kinder reden, wenn es Probleme gab, führten sicherere Verkaufsgespräche und hatten Mut, sich auf andere Menschen einzulassen. In zwei Fällen kam es zur Aufnahme eines Studiums an der Universität. Einige Befragte sagten, sie fühlten sich „in sich selbst“ besser als Frau. Sie hätten auch besser verstanden, was es heißt, Mutter zu sein. Sie entwickelten mehr Kritikfähigkeit, aber auch mehr Empathie für die Belange anderer Menschen. Bedeutsam sei es, dass sie gelernt hätten, sich Hierarchien gegenüber zu behaupten. Und auch in der Partnerschaft verdeutlichte sich: „Wir fühlten uns ernst genommen als Frauen, auch verbal, sonst dauert das ja immer eine Weile mit der Gleichberechtigung.“ Zwei Frauen haben in den folgenden Jahren ein weiteres Studium aufgenommen und mit dem Diplom abgeschlossen.
Die Männer erwähnten als positive Eigenschaften, die sie im Laufe ihrer Mitarbeit am Projekt erworben haben, die Fähigkeit zum freien Sprechen, Vorträge zu halten, Toleranz zu entwickeln, engere soziale Kontakte zu anderen Familien aufzubauen und schließlich die interne Interaktion in der Familie zu verbessern. Vieles deckt sich mit den Erfahrungen, die die Frauen sammelten. Männer und Frauen betonten in den Befragungen gleichermaßen, dass sie in den Seminaren gelernt hätten, in größeren Gruppen selbstbewusster aufzutreten oder etwa Verantwortung zu übernehmen. Das wirkte sich sowohl auf den beruflichen Bereich aus, als es auch ein Anstoß für soziales Engagement war. Ehrenämter wurden übernommen. Bei den männlichen Teilnehmern der Gruppe entwickelte sich ein deutliches Umweltbewusstsein, wachsende Beteiligung an Haushaltstätigkeiten, Erziehungsfragen und die Pflege intensiverer Kontakte in der eigenen Familie. Die Männer nutzten im Vergleich zu den Frauen die neuen Medien, beteiligten sich an Podiumsdiskussionen.

Fazit

Wir können davon ausgehen, dass die Seminare und Aktivitäten des Projektes Bildungswirkungen auslösten, die sich auf eine dauerhafte soziale Bindung zwischen den Mitgliedern der Gruppe, besonders aber auf die Frauen, auswirkten. Ihnen ist es auch zu danken, dass die Gruppe sich, wenn auch mit zeitweiliger Unterbrechung, immer wieder traf, und dass gemeinsame Tätigkeiten wieder aufgenommen oder fortgesetzt wurden. „Ich glaube, die Frauen waren das Band, wodurch immer wieder neue Treffen stattfanden.“ Da ein weitgehender Konsens in grundsätzlichen Fragen des Zusammenlebens herrschte, wirkte sich dieser über das Jahr 1979 hinaus auf die je unterschiedlichen Lebensbereiche aus: den familialen Alltag mit seinen kleinen Problemen, die Arbeitswelt mit ihren Anforderungen und die Begegnungen im Freizeitbereich. Vorhaben mit der Familie wie zielbewusst gestaltete Ferienreisen mit der Gruppe hatten einen höheren Stellenwert gewonnen.
Zum familialen Alltag gehörten nicht nur die internen Interaktionen, etwa zwischen den Eheleuten oder zwischen Eltern und Kindern, sondern auch die externen Herausforderungen, wie etwa der Schulbesuch der Kinder, und damit zusammenhängend die elterlichen Kontakte zur Schule, die Einbettung in das Wohnumfeld und die erweiterte Nachbarschaft.
Die Frauen erkannten Gemeinsamkeiten mit den anderen Frauen und gewannen eine stärkere persönliche Bindung. Die Geschlechterrollen wurden von den Frauen bewusster erfahren.
Es sei abschließend jedoch gesagt, dass die langfristige Wirkung ähnlicher „Lernprozesse“ gewiss auch anderen Orten zu beobachten ist, in denen Bürger und Bürgerinnen die Chance hatten, in politischen oder sozialen Gruppen aktiv mitzuwirken. Frühere Projekte der Gemeinwesenarbeit und der Stadtteilarbeit der 70er und 80er Jahre sind beispielhaft dafür. Es ist Prof. Dr. Dieter Baacke zu danken, dass er im Stadtteil Bielefeld-Stieghorst eine solche Entwicklung angestoßen und sie mit seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sowie einer Vielzahl mitwirkender Studentinnen und Studenten für die Wissenschaft aufgearbeitet und aufgezeichnet hat. Unsere Recherchen über die Initiativgruppe Stieghorster Familien, deren Aktivitäten das damalige Projekt überdauert haben, stehen insofern nur exemplarisch für Gruppen, die anderswo auf ähnliche Erfahrungen zurückblicken können. Die Ergebnisse unserer Befragungen der Frauen und Männer der „Ini-Gruppe“ bestätigen zudem einmal mehr die Nachhaltigkeit von Wirkungen, die durch die verschiedenen Bildungsangebote des Projektes Stieghorst damals ausgelöst wurden.